Wolfgang Pehnt
Kein Honnefer Modell

Fertighaus am Rhein, Bonn
Wolfgang Döring, Bauzeit: 1967

Auf der kleinen Wiese, hinter der man die Steilhänge des Siebengebirges ahnen kann, wirkte Wolfgang Dörings Haus damals wie eine Botschaft aus einer anderen Welt. Ein langes, schmales Objekt, am ehesten einem D-Zug-Waggon zu vergleichen, war über Nacht vor der Mauer des Honnefer Klostergartens aufgestellt worden. Irgendeinem Produktionszweck schien es eher zu dienen als seiner Wohnbestimmung. Wie bei Industriebauten, die stützenfreie Innenräume benötigen, steht ein größerer Teil des Konstruktionsgerüsts vor den Außenwänden. Was einschränken könnte, ist nach außen genommen. Innen sollte Freiheit herrschen, zumindest innerhalb der Wahlmöglichkeiten, die das Achsmaß zuläßt.

Normalerweise will man so genau nicht wissen, was ein Haus zusammenhält. Dörings Entwurf teilt es jedem ganz exakt mit. Die einzelnen Elemente demonstrieren geradezu, wie die Konstruktion arbeitet. Balken und Balkenköpfe aus Leimholz gehören zum Tragskelett. Dreieckige Holzscheiben, in der Größenordnung absichtsvoll übertrieben, besorgen die vertikale Aussteifung. In einigen Wandfeldern bilden gekreuzte Spanndrähte Windverbände. Ins Balkenfachwerk wurden Platten eingehängt, außen mit Eternit, innen mit Spanplatten verkleidet.

Mit polemischer Lust widersprach der Aachener Architekturprofessor dem Begriff, den man sich hierzulande von Wohnhäusern machte. Hier im Rheintal, nahe der alten Universitäts- und neuen Regierungsstadt Bonn, pflegt man groß- bis gutbürgerlich zu wohnen. Konrad Adenauers Rhöndorfer Rosenzüchteridylle ist nicht weit.

Der Ort hat sich auf seine Weise gerächt. Zwar steht der Bau noch wohlbehalten an seinem Platz. Dem Schlagwasser, das anfangs an den verglasten Oberlichtstreifen eindrang, ist längst der Weg verwehrt. Die außenliegenden Binderköpfe mußten, dem Regen ausgesetzt, Blechabdeckungen erhalten. Das sind Kleinigkeiten bei einem experimentellen Bauwerk. Dem Auge präsentiert es sich heute nicht viel anders als auf den vielen Aufnahmen, die Ende der sechziger Jahre durch die Fachpresse gingen, nämlich makellos. Was sich geändert hat, ist der Ort. Das Villenviertel ist wahllos zugebaut, die Parks herrschaftlicher Wohnhäuser werden parzelliert, das Kloster zum Guten Hirten hat aufgestockt, die Bäume, deren Kronen über die Mauer blickten, sind gefällt, Garage und Abstellraum engen den Zugang ein. Eingezwängt und ein wenig lächerlich gemacht, leidet das progressive Gebilde, das Freiheit versprach, nun am Gegenteil, an Platzangst und Beklemmung. Für fortschrittsfrohe Menschen waren die sechziger Jahre lustigere Zeiten.

Der Bauherr, ein Atomphysiker, der einen Ruf an die Bonner Universität erhalten hatte und aus den Vereinigten Staaten an den Rhein übersiedelte, und sein Architekt, ein Mann von Berliner Witz, scheinen sich verstanden zu haben. Projekte wurden halb im Spaß und halb im Ernst erwogen und verworfen. Einen ausgedienten kugelförmigen Gasbehälter wollte man von den Raffinerien in Wesseling herübertransportieren und zum Wohngehäuse machen oder eine Kunststoffhülle gießen und damit einen einzigen Raum mit eingehängten Arbeits- und Schlafplateaus umhüllen.

Von solchen Ideen blieb bei dem ausgeführten Entwurf der große Wohnraum übrig, der über zwei Etagen reicht und eine Wendeltreppe mit einer Arbeitsempore hat. Den restlichen, kleineren Teil des Quaders nehmen unten und oben Schlafzimmer, Küche, Bäder und Arbeitszimmer ein, die wie Zugabteile am schmalen Korridor aneinandergereiht sind. So viel Überlegungen in die Konstruktion eingingen, so summarisch geriet der Grundriß. Billig sollte das Haus sein und wurde es auch, 80 000 Mark für 150 Quadratmeter Wohnfläche. Das war auch für das Jahr 1967 eine bemerkenswerte Leistung.

Dörings Honnefer Projekt ist aus einem traditionellen, wenn auch ungewöhnlich verarbeiteten Material, Holz, und es ist ein kleines Einzelhaus. Dennoch verkörperte es Hoffnungen, die damals verbreitet waren. Es war die Zeit der technischen Utopien, die man kaum noch Utopien nennen wollte, so dicht schienen sie vor der Tür zu stehen. Die Weltraumfahrt hatte vorexerziert, was im Bereich des Machbaren lag. Warum sollte der Mensch nicht wenigstens in Türmen und künstlichen Hügeln aus Plastikkapseln und Wohnzellen hausen? Dergleichen fand sich auf den Skizzenblöcken der jungen Generation wie heute die Säulenhallen und Palladiofenster. Hindernisse wurden nur noch beim rückständigen Baugewerbe gesehen. Gegen seine altehrwürdigen Fertigungstechniken, die im Winter stillgelegten Baustellen, die Vielzahl der Gewerke setzten die Technologen die totale Industrialisierung des Bauens. Ziel waren nicht die schwerfälligen Großplatten und die Raumzellen aus Beton, bis zu denen die Bauwirtschaft sich allenfalls durchgerungen hatte, sondern elastische Elemente, leicht montierbar, paßgenau wie die Erzeugnisse von Schiffsbau, Flugzeugindustrie und Autofabrikation.

Wo es ganz progressiv zuging, wurden Container oder aufblasbare Hüllen mit allen notigen Einrichtungen der Lebensvorsorge das Vorbild. Was auf dem Mond möglich war, sollte auch am Rheinufer möglich werden. Architekturdesignern wie Döring galt das Bauen nicht mehr als ein Vorgang, der zu abgeschlossenen Ergebnissen führt, sondern als ein stets sich wandelnder Prozeß. Seine Produkte waren als provisorische Zwischenbilanzen gedacht, die durch ständige Innovationen überholt werden; entsprechend kurzfristig sollten sie sich amortisieren. Die Macher übten sich in neuen Rollen, für die sie am liebsten auf die alte Berufsbezeichnung verzichtet hätten: nicht Architekt, sondern Entwurfsspezialist für Prototypen. Auf die Originalität des einmaligen Entwurfs kam es ihnen nicht mehr an, da er ihnen durch den hektischen Wechsel der Architekturmoden kompromittiert schien. Dieser Gedanke jedenfalls läßt sich auch heute nachvollziehen. Wie der Urheber war auch der Bewohner als eine andere Spezies Mensch gedacht. An die Stelle des Bürgers mit seinen überkommenen Gepflogenheiten trat der Homo ludens, der die Möglichkeiten des Systembaukastens spielend nutzt. Hieronymus im Gehäuse wurde durch den Nomaden ersetzt, der mit leichtem Gepäck durchs Leben wandert, abrufbereit und so mobil wie sein provisorisches Zubause. Ging schon der Wohncontainer nicht (wie in manchen Projekten) mit auf die Reise, so sollte die menschliche Bleibe wenigstens veränderlich sein, kombinierbar, demontierbar, remontierbar.

Die Einsicht, daß Flexibilität hohe Vorausinvestitionen fordert und die billigste Flexibilität die des Umzugs in eine andere Wohnung ist, lag noch fern. Ob nicht auch das Vergnügen, die seßhaften Bürger zu düpieren, mitgespielt hat? Schon die Honnefer Baustelle bot den Spaziergängern Anlässe zum Rätselraten. Wochenlang stand dort nichts als die zweiunddreißig Fundamentklötze für die Stützen und der gegossene Betonkamin mit seinem Ofenloch. Dann fand die Montage der vorgefertigten Teile innerhalb von fünf Tagen statt, Bauen als Hexerei, ein altes Märchen- und Sagenmotiv. Auf ganzen 20 Quadratzentimetern ruht das Haus. So wenig Fläche nehmen nämlich die Querschnitte der dünnen Stahlstifte ein, mit denen die Holzleimstützen in den Betonfundamenten verankert sind. Es soll Passanten gegeben haben, die bäuchlings das Haus von se ner Unterseite inspizierten

Der Bau war als die Nullnummer einer größeren Serie geplant. Das ausführende Bauunternehmen konnte sich trotz aller Publizität, die der Prototyp fand, und trotz einiger hundert Anfragen nicht zu einer Massenproduktion entschließen. Zu wenig entsprach es dem Usus der Branche, die auch bei Fertighäusern mit Satteldach und Klinkerfurnier das Image des soliden Bauwerks wahrt, und zu sehr appellierte die Inszenierung seiner Machart an den Intellekt einer schmalen Kundschaft. Die Professoren blieben unter sich. Der erste Bewohner des Hauses war auch sein idealer Bewohner. Unvoreingenommen gegenüber traditionellen Wohnvorstellungen, wußte er als Naturwissenschaftler die Darstellung von Kräften an seinem Hause zu schätzen. Die Warhols und Indianas seiner Kunstsammlung machten sich gut auf den weißen Spanplatten der Wande. Lichtobjekte von Takis sandten ihre Farbsignale durch den hohen Wohnraum, Geist vom Geist der Technik.

Von der Veranderbarkeit des Hauses ist im Laufe seiner achtzehnjährigen Existenz nur sparsamer Gebrauch gemacht worden. Auch dieses Bauwerk verpackt man beim Umzug natürlich nicht, sondern verkauft es als unzerlegtes Ganzes. Veränderungen in der Einteilung der Innenräume beschränkten sich auf ein bescheidenes Maß, fanden auch beim Besitzerwechsel nicht statt. Die alten Gewohnheiten, mit Häusern umzugehen, sind stärker als alle Aufforderungen, neue Gewohnheiten zu entwickeln.

Heute fragt sich mancher Architekt, der sich einst fürs industrielle Bauen einsetzte, ob er nicht einen Irrweg eingeschlagen hat. Die Systeme wurden ihm aus der Hand genommen, weil sie nach einflußreichen Institutionen verlangen. Nur potente Auftraggebergesellschaften verfügen über das Durchhaltevermögen, rentable Serien aufzulegen, Grundlagenforschung und Produktentwicklung zu betreiben, Promotionsverfahren und Serviceleistungen zu bieten. Der Markt folgt seinen eigenen Gesetzen, die nicht die Gesetze der Architektur sein müssen. Auch Döring weiß, wie es tut, fassungslos vor der anonymen Verwendung seiner eigenen Designprodukte stehen zu müssen. Die Monotonie des ewig Gleichen, die der Elementbau der Theorie nach aufheben wollte, setzte sich in der Praxis allemal durch.

Heute findet sich die Hoffnung auf eine Erlösung von der großen Technik häufiger als der Glaube an eine Erlösung durch sie. Auch die Geschichte des Honnefer Hauses ist eine Geschichte der verlorenen lllusionen. Döring selbst war noch in seinem Buch "Perspektiven einer Architektur" ein beredter Fürsprecher des technologischen Bauens und verlangte, "die Architektur als Kategorie der Kunstgeschichte zu vernichten". Jetzt hat er sein Düsseldorfer Büro in einem von ihm entworfenen Baulückenhaus, umgeben von Jugendstilgebäuden. Mit spitzen Erkern und Rundbögelchen überm hohen Treppenhausfenster ist es gediegen anzuschauen, als stammte es vom rheinischen Salonexpressionisten Emil Fahrenkamp.

Auch der zweite Protagonist, der Bauherr, hat inzwischen die Szene gewechselt. Nach dem Verkauf seines Avantgardistendomizils bewohnt er nun ein paar Kilometer weiter ein ganz normales Haus mit Walmdach und hölzernen Fensterläden. Nicht daß er, wenn er an die zwölf Jahre in Dörings Produkt zuruckdenkt, ungute Gefühle hegte, im Gegenteil. Aber die Familie wuchs, ein offenes Haus ist auch ein lautes Haus, und die zugebaute Nachbarschaft trübte die Freude am progressiven Wohnen. Vielleicht wird er sich irgendwann einmal von seinem einstigen Architekten einen Pavillon im Garten bauen lassen, zur Erinnerung an die Zukunft, die nicht stattfinden wollte.